Einleitung
Rocky fürchtet sich vor Gewittern und zu Silvester ist es ganz besonders schlimm. Er verkriecht sich im hintersten Winkel der Wohnung oder versucht, sich im Bett zu verstecken. Es wird mit jedem Jahr schlimmer.
Daisy hat Angst vor fremden Leuten. Sie knurrt und bellt, und wenn sie jemand streicheln will, schnappt sie sogar. Ich habe Sorge, dass sie einmal jemanden beissen wird.
Meine Cindy ist jetzt 8 Monate alt, aber sie ist immer noch nicht sauber. Manchmal, wenn es draussen ruhig ist, pinkelt sie im Garten, aber bei Spaziergängen in einer neuen Umgebung bleibt sie unbeweglich stehen, will umdrehen und nach Hause laufen. Dann haben wir wieder das Malheur im Vorzimmer.
Wenn er allein bleiben muss zerstört Gismo alles, was er finden kann. Ganz besonders hat er es auf meine Sachen – Wäschestücke, Bücher, etc. – abgesehen. Wenn ich zu Hause bin, ist er ganz lieb und sehr anhänglich, aber dieses Zerstören, wenn er alleine bleiben muss, regt mich ziemlich auf. Und er weiss ganz genau, was er angestellt hat, wenn ich heimkomme …
Rex leckt schon seit vielen Wochen an seiner linken Vorderpfote, er ist schon ganz offen und blutig. Die Wundsalbe ist gleich wieder abgeschleckt und einen Verband duldet er nicht. Wenn ich mit ihm schimpfe, versteckt er sich und schleckt weiter.
Angst kann viele Gesichter haben. Alle diese Hunde leiden unter einer Angststörung – sei es eine Phobie vor lauten Geräuschen, eine soziale Phobie vor Menschen, sei es durch reizarme Umwelt in früher Jugend bedingte generalisierte Ängstlichkeit, eine trennungsbedingte Angststörung oder das chronische Leckgranulom als Folge einer beruhigenden Ersatzhandlung wie Pfoten schlecken.
Neben den durch aggressives Verhalten ausgelösten Problemen zählen diese Angststörungen zu den häufigsten Gründen für eine (verhaltens-)medizinische Konsultation beim Tierarzt. Trotzdem müssen immer noch viele Hunde in einem Zustand chronischer Ängstlichkeit oder mit wiederkehrenden Panikattacken leben. Mit diesem Artikel möchte ich Ihnen einen kurzen Überblick über die verschiedenen Angsterkrankungen beim Hund sowie moderne Therapiemöglichkeiten geben.
Definitionen
Beginnen wir zunächst mit einigen Definitionen rund die Angst: Furcht, Angst, Phobie, Ängstlichkeit.
Die Furcht ist eine mäßige Verhaltensreaktion des Hundes vor einem bekannten oder unbekannten Reiz, den er als wenig gefährlich betrachtet. Der Hund ist psychisch und körperlich in der Lage, den Reiz zu erforschen oder zu flüchten.
Die Angst ist im Gegensatz dazu eine heftige Verhaltensreaktion vor einem bekannten oder unbekannten Reiz, den der Hund als sehr gefährlich ansieht. In dieser Situation ist der Hund weder psychisch noch körperlich zur Erforschung oder Flucht fähig. In solch einer ausweglosen Lage zeigt er körperliche Symptome der Angst wie Speicheln, Hecheln, erhöhte Herzfrequenz, Schwitzen an den Pfoten, emotional bedingten Harn- und Kotabsatz oder Entleeren der Analbeutel.
Die Phobie ist eine zeitlich kurzfristige Reaktion der Angst vor einem genau definierten tatsächlichen Reiz wie bestimmte Geräusche, Männer, andere Hunde, etc., der aber für den Hund keine wirkliche Gefahr darstellt.
Ängstlichkeit ist ein andauernder diffuser Zustand von Angst vor wechselnden und vielfach minimalen Reizen in der Umwelt. Er ist verbunden mit Vorahnung und folglich übersteigerter Wachsamkeit gegenüber kleinsten Veränderungen in der alltäglichen Umgebung, und oftmals mit körperlichen Symptomen wie Erbrechen, Durchfall, Speicheln, etc. Je nach Stadium der Erkrankung reagieren Hunde sehr leicht reizbar und aggressiv, quasi in einer ständigen Verteidigungshaltung gegenüber einer als feindlich angesehenen Umwelt, oder sie werden in ihren Verhaltensweisen immer stärker gehemmt und suchen Entlastung in Ersatzhandlungen wie dauerndes Trinken, Fressen, Pfoten lecken oder übersteigerter Bindung an ihre Bezugsperson.
Wo liegen die Ursachen für diese Angststörungen ?
- Deprivationssyndrom
Als Deprivationssyndrom wird die Gesamtheit der Symptome bezeichnet, die durch eine reizarme Aufzucht entstehen, wenn sich der Hund in seinem weiteren Leben in einer komplexen und anregenden Umwelt befindet. Durch seine Defizite in der Gehirnstruktur kann er mit den vielen Umwelteinflüssen nicht umgehen. Er reagiert zunächst mit einer Phobie vor allem, was neu ist und aufgrund der dynamischen Vorgänge im Rahmen dieser Erkrankung lebt er sehr bald in einem dauernden Zustand von Angst: deprivationsbedingte Ängstlichkeit.
Allzu schnell lernt ein Hund in diesem überwachsamen, angespannten Zustand, dass aggressives Verhalten ein hervorragende Methode ist, sich alles und jeden vom Leib zu halten. Da diesen chronisch ängstlichen Hunden aufgrund ihrer Erkrankung eine vernünftige Selbstkontrolle fehlt, stellen sie eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Öffentlichkeit und, wenn die Kommunikation gestört ist, auch für ihre Familie dar ! In manchen Fällen finden diese ängstlichen Hunde für sich eine – scheinbar – grossartige Lösung. Sie kann die Ursache für das nächste Problem sein … - Trennungsbedingte Angststörungen
Ein unsicherer, ängstlicher Hund bindet sich übermässig an seine Bezugsperson. Aus der Anwesenheit und dem Körperkontakt mit seinem Menschen bezieht er seine Stabilität und soziale Sicherheit. Sie, als Besitzer, sind die Lösung all seiner Probleme … ja, solange bis Sie ohne Hund weggehen. Dann stürzt die Welt für den Hund zusammen, er hat auf einmal seine ganze Stabilität verloren. In seiner Verzweiflung beginnt er zu bellen und zu heulen, um wieder Kontakt zu bekommen. Die körperlichen Symptome der Angst können sich soweit steigern, dass er mehrfach Harn und vielfach flüssigen Kot absetzen muss. Manche Hunde beruhigen sich sehr zum Missfallen ihrer Besitzer selbst durch Kauen und Nagen – die Schäden in der Wohnung können enorm sein.
Bei der Rückkehr finden Sie dann einen geduckten, eingeschüchterten und ängstlichen Hund. „Er weiss ganz genau, was er wieder angerichtet hat …“. Auch wenn es aus menschlicher Sicht noch so sehr danach aussehen mag: Ihr Hund weiss es nicht. Er kombiniert schlicht und einfach: Wenn Frauerl und kaputter Teppich zusammentreffen, bedeutet das nichts Gutes. Dass es sein, für ihn ja sinnvolles, weil beruhigendes Verhalten vor zwei Stunden war, das Ihre Unfreundlichkeit auslöst, kann er nicht erkennen. Dafür fehlen selbst einem sehr intelligenten Hund die geistigen Fähigkeiten, zeitlich versetzt zu kombinieren.
Mit einer – wie auch immer gearteten – unfreundlichen Reaktion vergrössern Sie allerdings das Angstproblem Ihres Hundes: Einerseits sind Sie die einzige Möglichkeit, wie er Beruhigung und Sicherheit findet, andererseits weisen Sie ihn zurück – eine ziemlich ausweglose Situation für einen ängstlichen Hund, nicht ?
Behandlung von Angststörungen
Der Leidensdruck und die Beeinträchtigung der Lebensqualität für Hund wie Besitzer sowie die potentielle Gefahr für die Gesellschaft durch aggressives Verhalten dieser Hunde sollten genug Gründe sein, Hunde mit Angststörungen tierärztlich behandeln zu lassen.
Die Möglichkeiten der modernen Verhaltensmedizin erlauben zwar nicht immer die vollständige Heilung – ein mangelhaft entwickeltes Gehirn oder fehlende Selektion auf anpassungsfähige und psychische stabile Hunde kann nicht mehr rückgängig gemacht werden – aber es gibt dennoch zahlreiche Möglichkeiten, diesen Hunden zu helfen.
Die Ziele der Behandlung hängen im Einzelnen natürlich davon ab, was der Besitzer des Hundes erreichen möchte. Aber im Wesentlichen möchte man Folgendes erreichen:
- Wiederherstellung der psychischen Stabilität und des Wohlbefindens für den Hundes
- Wiederherstellung einer harmonischen Beziehung zum Besitzer oder zur Familie
- Sicherheit für die Gesellschaft (z.B. bei aggressivem Verhalten)
- Keine weiteren Schäden in der Wohnung, Auto, etc.
Die Behandlung hängt natürlich immer von der genauen Diagnose, der Dauer der Erkrankung und dem Grad der Beeinträchtigung ab.
Die unangenehmen körperlichen Symptome der Angst und die gesamte ängstliche Stimmungslage des Hundes können – und sollten – zunächst mit Medikamenten behandelt werden. Die Palette der medikamentellen Möglichkeiten reicht von der Homöopathie bis zu sehr spezifisch auf die Botenstoffe im Gehirn wirkenden synthetischen Psychopharmaka. Der Einsatz von bereits in der Humanmedizin bewährten pflanzlichen Psychopharmaka in der Veterinär-Verhaltensmedizin erscheint vielversprechend – laufende Untersuchungen werden zeigen, ob sie auch für die Therapie bei Hunden geeignet sind.
Ein vollkommen neuer Weg in der Verhaltensmedizin ist der Einsatz von speziellen Geruchsstoffen, sogenannten Pheromonen. Diese Pheromone werden von der Hündin während der Säugeperiode produziert und haben eine beruhigende und entspannende Wirkung auf die Welpen. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Pheromone auch bei erwachsenen Hunden angstlösend wirken.
Ein Hund, der neben der emotionalen Anspannung alle körperlichen Symptome der Angst erlebt, ist unfähig zu lernen. Erst wenn sich der Hund aufgrund der medikamentellen Behandlung oder der Pheromon-Therapie besser fühlt, ist er auch wieder in der Lage, zu lernen.
Dann beginnt die Phase der Verhaltenstherapie, wo der Hund langsam mit verschiedenen Techniken, wie zum Beispiel der systematischen Desensibilisierung, der Gegenkonditionierung oder der Spieltherapie an angstauslösende Reize gewöhnt wird. Eine Verbesserung ist oft schon nach den ersten Wochen zu sehen, in manchen Fällen von schwerem Deprivationssyndrom kann die Therapie einige Monate bis zu einem Jahr dauern. Rückschläge sind häufig, mit Konsequenz, Ausdauer und der Strategie der kleinen Schritte können jedoch auch diese Hunde mit ihrer Beeinträchtigung leben.
Zusammenfassung
Angststörungen beim Hund sind sehr häufig und sie beeinträchtigen das Wohlbefinden entscheidend. Die Vielzahl der Symptome kann unterschiedliche, körperliche und psychische Ursachen haben, sodass Hunde mit Angststörungen tierärztlich untersucht werden müssen. Wenn auch teilweise genetisch bedingt, sind die wichtigsten Ursachen in Entwicklungsstörungen durch reizarme Aufzucht zu suchen. Für die Behandlung von Angststörungen gibt es in der modernen Verhaltensmedizin unzählige Möglichkeiten, die zwar nicht immer völlige Heilung, doch eine wesentliche Besserung der Erkrankung ermöglichen.
Mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin ©Dipl.Tzt. Sabine Schroll, 21.11.2001